Bernd Schilcher gegen Konrad Paul Liessmann: Die Debatte zwischen einigen von Österreichs Vordenkern zum Thema Bildung geht in die nächste Runde.

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Jetzt ist es draußen: Konrad Paul Liessmann mag mich nicht. Ich nerve ihn, sagt er.

Als Mensch, weil ich in meinem "bildungspolitischen Pamphlet" ("Bildung nervt") behaupte, dass "unsere Kinder den Politikern egal sind" aber dann "weinerlich das Glück beschwöre, dass ich eine große Zahl beeindruckender Persönlichkeiten" kennengelernt habe.

Vor allem aber nerve ich ihn als "Bildungsexperte". Und da bin ich nicht allein, Er mag sie alle nicht, die "selbsternannten" wie die anderen. Also zum Beispiel den Peter Fratton, der in der Schweiz "ein gescheiterter privater Schulunternehmer ist" und sinnlose "pädagogische Urbitten" verfasst; weiters David Precht, "ein erfolgreicher – das auch noch – philosophischer Autor" in Deutschland, "der nicht länger zusehen kann, wie sein Kind in und an einem falschen Schulsystem leidet" und sich daher – horribile dictu – eine "Bildungsrevolution" wünscht. Ja und da ist noch ein "selbsternannter Hirnforscher, der weiß, dass jedes Kind hochbegabt ist", Gerald Hüther mit Namen; gar nicht zu reden von Andreas Salcher, einem "Unternehmensberater und Bestsellerautor" – na, mehr braucht Herr Liessmann nicht. Denn das sind ja die neuen "Bildungsexperten, "die sich Rat bei MacKinsey holen" und damit "den neuen Mythen des ökonomischen Alltags verfallen und "Bildungseinrichtungen in Unternehmen" verwandeln wollen. Schließlich kriegt auch Markus Hengstschläger sein Fett ab, der die "Normalität" zum "Schreckgespenst" unserer Zeit macht. "Nicht in die Durchschnittsfalle tappen, nur nicht gewöhnlich sein, nur nicht Mittelmaß, da wir doch im globalen Wettbewerb nur noch mit dem Außergewöhnlichen punkten können". Und was sagen dann schließlich alle gemeinsam: "Wir können es uns nicht mehr leisten, Talente zu verschenken." Ein besonders abwegiges "Credo" in Liessmanns Augen.

Am Ende dieser Philippika entsteht der Eindruck, Gott sei Dank gibt es unter dem Haufen der einseitigen, nervigen und fehlgeleiteten Pseudoexperten noch einen, der normal denken kann, also den "Philosophen und Kulturpublizisten" Konrad Paul Liessmann.

Ich habe mich natürlich gefragt, wie ein gescheiter und gebildeter Philosoph, der sehr interessante Vorlesungen hält – ich selber habe mir zwei solche angehört - , diese in spannenden Büchern und Zeitungsartikel publiziert, immer außergewöhnliche Zugänge zu alltäglichen Problemen findet, auf einmal hergeht und sämtliche Sprüche der AHS Gewerkschafter kritiklos nachbetet? Nicht ein einziges seiner "Argumente" stammt von Liessmann. Alles was er auf vielen Seiten sagt – der Artikel im "Standard" ist ja nur ein "stark gekürztes Kapitel aus seinem nächsten Buch" –ist bereits von den Besitzstandswahrern der AHS Gewerkschaft vorformuliert worden. Nicht selten wortwörtlich. Nur dass Quinn & Co. zugeben, bloße Interessensvertretung zu betreiben, während der Herr Professor aus all dem eine "Theorie der Unbildung" macht.

Respektvolle Entfernung von der Wahrheit

Ein gewagtes Unternehmen. Denn auf weiten Strecken bewegt sich der Wissenschafter Liessmann nur noch in respektvoller Entfernung von der Wahrheit. So wenn er behauptet, dass sich alle Bildungsexperten, die er nicht mag, einig wären, "dass das aktuelle Bildungssystem das denkbar schlechteste ist" und daher nur durch eine "Bildungsrevolution" beseitigt werden könnte. Ich weiß nicht, woher Herr Liessmann das hat. Ich jedenfalls habe weder das eine noch das andere jemals behauptet. Ganz im Gegenteil habe ich das österreichische berufliche Bildungswesen von der Lehrlingsausbildung bis zur HTL, in dem sich immerhin 80 % der Jugendlichen zwischen 15 und 19 Jahren befinden, stets als ausgezeichnet und beispielhaft dargestellt. Der Philosophenkollege Burger hat daraus sogar den Schluss gezogen, dass die HTL bereits die Universitäten als Leitbilder abgelöst habe.

Tatsächlich ist es Liessmann selbst, der das vernichtendste Urteil über die Bildung in Österreich fällt. Seiner Meinung nach ist sie nämlich "schlicht verschwunden". (Theorie der Unbildung, Seite 70). Es gibt sie nicht mehr. An ihrer Stelle habe man "die Inhalte klassischer Bildung zu einem äußerlichen, auf die vermeintlichen Bedürfnisse der Jugendlichen zugeschnittenen halbwegs attraktiven Sammelsurium von Reizen, Zugängen, Anregungen und Aufhängern verkommen lassen". So beispielsweise wenn man Plenzdorf‘s "Neue Leiden des jungen W." anstelle von Goethes Werther in der Schule las; oder den Geschichtsunterricht durch eine "Exkursion in Spielbergs Film Schindlers Liste" ersetzt hat. Das alles seien bestenfalls "volkspädagogische Übungen" die bloß "einigermaßen rührend" anmuten.

Womit Liessmann nicht zuletzt klarstellt, was er vom "Volk" hält. Offenbar nicht sehr viel: so hätte der "Demokratieschub" als "Öffnung der Bildungssysteme für das Volk" seiner Meinung nach einen hohen Preis, nämlich, die Institutionalisierung von Halbbildung. Und Halbbildung ist nicht etwa "die Vorstufe zur (ganzen) Bildung", sondern ihr "Todfeind". Also hat es nach Liessmann prinzipiell bei der höheren Bildung für höhere Schichten zu bleiben. Diese Auffassung bestätigt der Philosoph in seinem jüngsten Artikel über persönliche Verantwortung. Dort plädiert er leidenschaftlich dafür "dass viele Menschen einen von der Bildungspolitik erwünschten Bildungsweg, der ihnen und ihren Kindern durchaus offen stehe, einfach nicht einschlagen wollen" auch nicht einschlagen sollen. Schuster bleib‘ bei deinen Leisten.

Auf die Idee, dass eine anregende Umgebung – wie z. B. durch Kinder von Akademikern in einer gemeinsamen Schule, hilfreich für die Bildungs-Entscheidung eines Arbeitskindes wäre, kommt Liessmann erst gar nicht. Wie sagte dagegen John Hattie, den selbst die AHS Gewerkschafter für den besten Bildungsexperten halten, erst vor wenigen Tagen: Es sei eine "Sünde" in Österreich, die Kinder schon mit 10 Jahren zu trennen und in verschiedene Schulen zu schicken. Damit würden dem weiteren größeren Teil entscheidende Entwicklungschancen genommen.

Aber wer ist schon Hattie – im Vergleich zu Prof. Liessmann - wohl eben auch nur einer von den selbsternannten Bildungsexperten.

Hattie gehört übrigens zu denen, die eine durchaus auch humanistische Persönlichkeitsentwicklung der Jugendlichen neben der Vorbereitung auf das berufliche und gesellschaftliche Leben für richtig und wichtig halten. So wie die meisten anderen Bildungsexperten. Liessmann hingegen ist ein binärer, besser noch ein bipolarer Denker. Er hat‘s ganz stark mit dem – "Entweder – Oder". Also wirft er allen Nicht-Liessmännern vor, dass sie

"statt Leistung – Integration" wollen, "statt Denken – Problemlösungskapazität" "statt bildungspolitische Kopfarbeit – Praxisnähe und Flexibilität" "statt geistiger Durchdringung der Welt – Lebensnähe und soziale Kompetenz". Dass man alles das, sowohl als auch vertreten kann, ist einen "Bipolarene" offenbar völlig fremd.

Nicht einmal in Rufnähe der Realität

Auch hier ist der Herr Philosoph und Wissenschafter nicht einmal in Rufnähe der Realität oder gar der Wahrheit. Weil sie ihn im Zusammenhang mit der Bildung im Allgemeinen und mit der Bildung an den Universitäten gar nicht interessiert. Denn auf diesem Gebiet ist er ja nicht der akklamierte und neutrale arbiter scientium et veritatis, sondern ein höchstpersönlich Betroffener. Und wie man als solcher reagiert, beschreibt Liessmann unter anderem sehr schön in seiner Vorlesung über Immanuel Kant. Dieser Gigant der rationalen Überlegung war dort, wo es ihn höchstpersönlich betraf, bestenfalls kauzig. Das galt nicht nur für seinen Tagesablauf, nach dem die Königsberger ihre Uhren stellen konnten, sondern vor allem auch für seinen Umgang mit dem weiblichen Geschlecht. Da er die allergrößte Panik vor "Körpersäften" hatte, insbesondere von solchen der "Weiber", vermied er jeden Kontakt mit diesen bis hin zu peinlichen Brüskierungen. Natürlich ohne jeden Einsatz auch nur von Spuren der Vernunft. Die hätten ihm nämlich gezeigt, dass es zumindest immer wieder einige Überlebende des Geschlechtsverkehrs gibt.

Bei Liessmann ist das ähnlich. Wo es ihn im Kern trifft, setzt auch seine Vernunft aus. Es bleibt bei einer billigen, noch dazu abgekupferten Polemik. Seine sonst so eindrucksvolle strukturierte Welt schrumpft auf ein simples "Gut und Böse" zusammen. Alles, was dem Bildungsbegriff des deutschen Idealismus und Neuhumanismus entspricht, ist gut, alles was nachher kommt, ist des Teufels. Und wer ihm diese Einstellung auch noch ins Gesicht sagt, den empfindet er offensichtlich als Abgesandten eben dieses Höllenfürsten. Ich habe das gleich zweimal getan. Einmal bei der Vorstellung seiner "Theorie der Unbildung" in Graz vor hundert Lehrerinnen und Lehrern, wo ich die Ehre hatte, die Laudatio zu halten und ein zweites Mal erst unlängst bei einer Fernsehdiskussion im Salzburger Hangar 7.

Mehr habe ich nicht gebraucht. Persönliche Betroffenheit und Eitelkeit sind offensichtlich ein brisante Mischung. Wenn sie dann auch noch durchsetzt ist von Standesdünkel, drohen postwendend "Streitschriften" also als Angriff getarnte verbale Abwehrschlachten. Dass das Bildungsbürgertum stets den Anspruch hatte und hat, höhere Bildung auf "eine exklusive Schicht zu beschränken" und gleichzeitig "Norm und Maßstab für die Kultur eines Landes" zu sein, gibt Liessmann ausdrücklich zu. Auch, dass eine solche Haltung "dünkelhaft" sei. Bleibt also nur noch, dass er seine Rolle als geistiges Oberhaupt dieser österreichischen Restgruppe durchschaut. Vielleicht wäre dann Hopfen und Malz nicht ganz verloren. (Bernd Schilcher, DER STANDARD, 22.9.2014)